Zum ‚Fräulein‘ vermerkt* Walter Hinderer:
Diese Verse gehören sicher nicht zu den raffiniertesten oder kunstvollsten, die Heinrich Heine geschrieben hat, aber sie fesseln das Ohr wie eine eingängige Melodie, die einem nicht mehr aus dem Kopf geht und die zum Nachsummen verführt. Dabei ist es genau genommen ein Gegengedicht, ein Gegengesang, in dem man die süffige Tonart, die hier parodiert und kritisiert wird, ohne schlechtes Gewissen noch mitgenießen kann. Doch ist das nicht so etwas wie höheres Indianerspiel, der Versuch, abgedroschene Schlager mit einem Kunstgriff wieder hoffähig zu machen? Zugegeben: Die beiden scheinbar so traditionell gereimten und rhythmisierten Strophen haben die Qualität eines Chansons oder Songs mit einem zünftigen kabarettistischen Einschlag. Dem sentimentalen Volksliedton, dem auch Heine keineswegs immer zum Vorteil seiner lyrischen Produktion gehuldigt hat, wird hier gekonnt widersprochen – mit den poetischen Mitteln der Parodie, der Ironie und des Witzes.
Die Verse stammen aus dem Zyklus »Seraphine«, der vermutlich 1832 entstanden ist und in dem Heine in fünfzehn Gedichten verschiedene Spielarten und Möglichkeiten seiner Lyrik rekapituliert. Romantische und biedermeierliche Versatzstücke stehen hier neben formalisierten Naturbildern und politischen Anspielungen. Nicht immer wurden dabei die Erwartungen des zeitgenössischen Lesers enttäuscht oder durch Ironie verfremdet. Jedoch das Gedicht vom »Fräulein … am Meere«, das im Zyklus unter Nr. 10 eingereiht ist, nimmt eindeutig die falschen Töne und Gefühlslagen der epigonalen Naturlyrik der Zeit aufs Korn und setzt sich damit kritisch mit einer poetischen Schreibweise (auch der eigenen) auseinander. Wie in einem kitschigen Werbefilm ist hier alles Staffage: das Meer, der Sonnenuntergang, das Seufzen und die Rührung; ja selbst das Fräulein scheint nicht aus der Wirklichkeit, sondern aus dem Klischeearsenal des Guckkastens zu stammen. Ist schon in der zweiten Zeile, in dem Binnenreim »lang und bang« die satirische Absicht kaum zu überhören, mit dem so auffallend gedehnten »sehre« setzt Heine – und nicht etwa bloß aus Verlegenheit, weil er ein passendes Reimwort auf »Meere« braucht – ein pointiertes kritisches Signal, das ebenso blitzartig wie einleuchtend die ganze abgestandene Natursentimentalität in Frage stellt. Außerdem übertreibt dieses »sehre« den Leierkastenton der Strophe dergestalt parodistisch, daß der Leser am liebsten selbst in die Kurbel greifen möchte. Aber in der zweiten Strophe läßt Heine von selbst die Katze aus dem Sack. Der Leierkastenmann gibt sich in seiner Anrede an das Fräulein als kritischer Arrangeur und Regisseur der Naturszene zu erkennen. Gegen die falschen Seufzer und die sentimentale Rührung ermahnt er das Fräulein zur Munterkeit und erläutert ihm den sich ständig wiederholenden Wechsel von Sonnenunter- und Sonnenaufgang als ein altes Schauspiel. […]
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